Sonntag, 20. November 2011

Fazit Indien

Was halte ich jetzt also von Indien? Es ist zweifellos ein hochinteressantes, vielleicht sogar einzigartiges Land, keine Frage. Allerdings nicht zwingend, sicherlich nicht ausschließlich, im positiven Sinne. Es ist ein einziger großer Kontrast. Ein mitunter wunderschönes Land, mit Menschen von fast überbordender Freundlichkeit. Auf der anderen Seite ist es eine Gesellschaft, die aufgrund von überkommenen, vorwiegend religiösen Vorstellungen im Vorgestern verhaftet ist. Eine Gesellschaft, die Pogrome zulässt, auf die Adolf stolz gewesen wäre. Eine Gesellschaft von einem immensen potentiellen Reichtum, die aber akzeptiert, dass eine halbe Milliarde Menschen unterhalb der Armutsgrenze in den Straßen verrottet und vier- fünfjährige Kinder in Dreck und Fäkalien wühlen um etwas Verwertbares zu finden, während der Staat sein Geld rauswirft um in einem Konflikt, der an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist, atomar aufzurüsten. Gleichzeitig findet man eine unterschwellige Dynamik, die Möglichkeiten aufzeigt wie kaum irgendwo sonst – wenn denn die Gesellschaft im Ganzen irgendwann auch nur im 20. Jahrhundert ankommen würde, geschweige denn im 21.

Manchmal ist das schon sichtbar, in Städten wie Bangalore oder Mumbai (zumindest in Teilen dieser Städte), mit hervorragend ausgebildeten jungen Menschen, die langsam althergebrachten Strukturen in Frage stellen. Ich will nicht missverstanden werden, ein beträchtlicher Teil, der Indien so beeindruckend macht, liegt sicherlich in den alten Kulturschätzen und ihrer Geschichte, aber es ist eben das: Geschichte. Und es sollte nicht zu viel verlangt sein, im Heute anzukommen ohne seine kulturellen Wurzeln zu vergessen – letztlich gibt es einen beträchtlichen Ballast in dieser Kultur (das Kastenwesen, die Unterdrückung der Frau, die Akzeptanz von extremster Armut während man geduldig in der Reihe steht, um auf die nächste Inkarnation zu warten – um nur einiges zu nennen) der meiner bescheidenen Meinung nach schlicht in die Tonne gehört. Jeder wie er will, ok, aber erwachsene Menschen, die sich im Alltag Farbe ins Gesicht schmieren, um den Goodwill ihres Favoriten unter den 30 Millionen Gottheiten nicht zu verwirken, sind mir nun einmal etwas suspekt – gut, mir persönlich ist alles religiöse Getue suspekt, egal welcher Glaubensrichtung, aber hier hat Religion einfach noch einen wesentlich höheren Stellenwert im Alltag als sonst wo. Ach, und ein kleines bisschen sexuelle Revolution würde ihnen auch ganz gut tun – nur ein klein wenig weniger Verkrampftheit.

Mir scheint mal wieder, dass es mit der Bildung und den jungen Menschen steht und fällt. Das Potential ist allemal vorhanden, aber es wird einfach nicht – oder nur unzureichend – genutzt. Es ist schon fast tragisch, wie simpelste Dinge im Argen liegen: Die allgegenwärtige Umweltverschmutzung hatte ich ja schon mehrmals erwähnt. Ist es so schwer zu verstehen, dass Plastikmüll nicht einfach in zwei Wochen verrottet wie Palmblätter? Ist es wirklich zu viel verlangt, zumindest die Stellen, an denen Trinkwasser entnommen wird, einigermaßen von Fäkalien und Industrieabwässern frei zu halten? Muss man wirklich für jeden noch so kleinen amtlichen Antrag ein Monatsgehalt an Bakschisch investieren? Die Korruption ist teilweise so offen sichtbar, dass einem nur das Kopfschütteln bleibt (zum Glück hat man zumindest als Tourist nichts damit zu tun – solange man keinen Unfall hat und es mit den Behörden zu tun bekommt). Zumindest die wirtschaftliche Entwicklung wird vom Amtsschimmel mehr als nur ein bisschen gebremst, jede Entwicklung wird zunächst fast abgewürgt wenn der Unternehmer nicht extrem gut vernetzt ist, jeder Offizielle will seinen Anteil. Und weiter: Muss man wirklich fünfzehn Kinder zeugen, nur weil die ersten vierzehn Mädchen waren? (In aller Fairness, dieser Trend scheint zurückzugehen, immerhin) Weshalb muss man seinem Nachbarn den Schädel einschlagen, nur weil er zufällig Allah besser findet als Vishnu?

Und dennoch, trotz allen oberflächlichen Chaos, das Bahnsystem ist ungeschlagen effizient (gut, manche Verbindungen könnten etwas häufiger sein und das rituelle „Rugbyspiel“ beim Besteigen unreservierter Wagons – oder Busse – könnte man auch mal zivilisieren, aber egal), Indien ist bei allen Fehlern seit über sechzig Jahren eine zumindest leidlich funktionierende Demokratie – während ihnen 1947 niemand auch nur sechs Monate zugetraut hätte – und die modernen Zentren brauchen sich zumindest wirtschaftlich hinter kaum jemand zu verstecken. Selbst Bettler haben eine unübersehbare Würde und der Familienzusammenhalt ist beeindruckend, die Kinder sind umwerfend – neugierig, lachend, rufend und winkend jedem Fremden gegenüber, mit riesigen braunen Bambiaugen, absolut reizend. Das Land hat traumhaft schöne Seiten und selbst die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Gesundheitsfürsorge auch für die Ärmsten scheint Stück für Stück besser zu werden – zumindest wird das Problem, ebenso wie die Korruption, langsam auch an maßgeblichen Stellen angegangen. Zwar mit mitunter mäßigem Erfolg, aber bleiben wir fair.

Zurück zur Frage: Was halte ich nun davon? Ich bin nicht sicher. Ist Indien faszinierend? Nein, dafür ist es zu klar zu benennen. Hochinteressant? Definitiv ja. Anstrengend? Unbedingt! Lohnend? Auf jeden Fall. Es war sicher eine großartige Erfahrung, im positiven wie im negativen Sinne. Man sagte mir mal, dass man Indien entweder liebt oder hasst. Das kann ich nicht bestätigen. Ich habe wundervolle Momente erlebt, phantastische Menschen getroffen, großartige Stätten besichtigt und traumhafte Landschaften gesehen, aber lieben? Nein. Auf der anderen Seite habe ich Situationen erlebt, in denen man allen um sich herum nur die Beine brechen möchte, habe kopfschüttelnd vor sinnloser Ineffizienz gestanden und in erstickenden Abgasen und Dreck in Stadtzentren nach Atem gerungen; in Drecklöchern vor stinkenden Toiletten gestanden und – sozusagen als kleines Auf-Wiedersehen zum Abschluß gestern in Delhi – noch staunend eine kurz vor der Explosion stehende Demo an mir vorbeiziehen sehen, die Atmosphäre extrem aggressiv aufgeladen (später hörte ich von mehreren Toten – aber kein Wort in der Zeitung), aber hassen? Auch nein.

Ich schätze, Indien ist letztlich ein letzter Überlebender von alten Konventionen, mit viel zu vielen Menschen, aber mit einem ungeheuren Potential, menschlich wie auch wirtschaftlich – allerdings will ich nicht wissen was passiert, wenn diese Atommacht mal über ein echtes Problem stolpert. Bis dahin: Das Essen ist klasse, das Wetter gut und das Land schön – man muss nur gegenüber Rikschafahrern hart bleiben, dann schüttelt sich der Rest hin.

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